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Der Junge, der 5000 Kilometer hinter sich gelassen hat

Irfan war 14, als er seinem Elternhaus in Afghanistan den Rücken kehrt - Deutsch lernen steht an erster Stelle



Von Ingeborg Wagner

TUTTLINGEN – Es ist der 15. August 2021. Innerhalb weniger Stunden erobern die Taliban die Hauptstadt Kabul, dringen in den Präsidentenpalast ein und verkündeten ihren Sieg. Afghanische Ortskräfte, Frauen und Kinder versuchen, in letzter Minute aus dem Land zu kommen. Die Bilder des überfüllten Flughafens von Kabul, von den Menschen, die sich an startende Flugzeuge hängen, gehen um die Welt. Auch als Sinnbild des Versagens westlicher Politik. Einer, der damals die Chance zur Flucht ergriffen hat, ist Irfanullah Sahar, genannt Irfan, gerade mal 14 Jahre alt. Zusammen mit einem gleichaltrigen Freund hat er sich auf den Weg gemacht. In Tuttlingen ist er angekommen.

Die Provinz Nangahar liegt im Osten Afghanistans. Es ist die Heimat Irfans, seiner Eltern und seiner Geschwister, zwei Mädchen und zwei Jungen. Irfan ist der Zweitälteste. Sein Vater hat als Fahrer für die Mitglieder der US-Armee gearbeitet, die vor Ort stationiert waren. Seit deren Abzug arbeitet er als Ein-Mann-Taxi. Es reicht, um die Familie gerade so über die Runden zu bringen.

Bevor die Taliban kamen, gingen Irfan und seine Geschwister in die Schule. Seit der Machtübernahme ist das nicht mehr so. Statt Unterricht gab es Schüsse und Schläge, sagt Irfan. Und Razzien von Taliban-Kräften. Auch nachts wurden Wohnhäuser durchsucht, Menschen mitgenommen, verschleppt, getötet, hingerichtet. Die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch berichtet davon, dass in einem leeren Kanal von Nangarhar mehr als 100 Leichen gefunden wurden. Männer, die die Taliban der Mitgliedschaft im ISKP beschuldigten, eines Ablegers des afghanischen IS.

Irfan lernt seit Oktober Deutsch in der Steinbeis-Schule in Tuttlingen. Auch Englisch beherrscht er ein bisschen. Er ist munter und gefasst. Hört aufmerksam zu und versucht, zu verstehen, denn die Kommunikation ist schwierig. Von seiner Flucht erzählt er emotionslos und sehr wenig. Die Gefühle gehen mit ihm durch, als er davon spricht, wie er über das Smarthphone Kontakt mit seiner Familie in Nangahar hält. Er ist in großer Angst um sie. „Wenn ich an Afghanistan denke, wird es schwierig für mich“, sagt er. Seine Stimme bricht, er atmet tief durch. Irfan ist aufgeregt. Wie ergeht es seinen Eltern? Was soll aus seinen Geschwistern werden? Seit August 2021 halten sie sich nur noch zu Hause auf. Afghanistan verlassen können sie nicht. Die Taliban lassen sie nicht ausreisen.

Tausend Gründe, zu gehen. In Irfans Koffer befanden sich Kleidung, Essen und Trinken und ein bisschen Geld. Mit dem Bus ging es in den Iran, dann in die Türkei. Dort war er ganze zehn Monate lang. Doch er wollte weiter. Mit einem Boot setzte er nach Griechenland über, dann ging es zu Fuß, ehe es ihm und seinem Freund gelang, in einem Auto mitzufahren. Griechenland war für sie der schwierigste Zwischenstopp, wie er erzählt. Die Polizisten seien „schwierig“ gewesen.

Von Griechenland ging es über Nordmazedonien, Serbien, Ungarn und Österreich in die Schweiz. Über den Grenzübergang Kreuzlingen-Konstanz kam er nach Deutschland. Dort wurden sie von der Bundespolizei aufgegriffen und auf die Wache gebracht, wie Irfan erzählt. Sie kamen für eine Nacht in das Konstanzer Krankenhaus zur Untersuchung, dann ging es weiter in ein Kinderheim nach Singen. Irfan kam nach einem Monat nach Tuttlingen zu Mutpol, sein Freund in eine andere Stadt. Den Namen der Stadt weiß Irfan nicht. Kontakt haben die beiden aber noch.

Deutsch, Englisch und Mathematik: Das sind die Fächer, die er in der Schule lernt. „Ich habe viele Freunde“, erzählt er, Deutsche, Albaner, Rumänen, Serben. In der Mutpol-Wohngruppe im Steinigen Tal, wo er zunächst auf dem Stammgelände untergebracht war, sei er mit anderen Afghanen zusammen gewesen. Seit dem 4. Januar ist er in der Jetterstraße, einer Außenstelle der diakonischen Jugendhilfe Mutpol. Sechs Jungen und ein Mädchen leben dort mit Unterstützung von Betreuern zusammen. Warum der Umzug dorthin? Das sei besser für ihn, sei ihm gesagt worden.

Das Haus ist riesig, mit Garten. Irfan hat ein großes Zimmer. Unter der Woche bekommt die WG das Essen von der Mutpol-Küche, an Samstagen und Sonntagen kocht einer von ihnen, erzählt Irfan. Bald ist er dran. Zu Hause in Afghanistan hat er Cricket gespielt. Das gibt es in Tuttlingen nicht. Also ist er auf Fußball umgeschwenkt.

An erster Stelle steht für ihn Deutsch. „Ich lerne schnell, und ich mag das gerne lernen“, sagt Irfan. Für seine Zukunft. Er will einen guten Job, will sich hier etwas aufbauen. „Hattest Du ein schönes Wochenende?“, liest er aus dem Übungsheft vor. „Wir hatten viel Spaß.“ „Und wie war die Party?“ Hilfsverben sind das Thema: „Ergänzen Sie: haben und sein“. „Wir waren in der Firma. Wir hatten viel Arbeit.“ Auch das ist Thema im Übungsheft.

Die Kleider, die er auf der Flucht dabei hatte, passen ihm nicht mehr. Aber er hat neue bekommen. Die momentane Kälte macht ihn nichts aus. „Ich habe gute Klamotten“, sagt er. Und das: „Danke. Ich will danke sagen.“
 

Irfan ist einer von vielen, die Schutz suchen

(iw) – Irfan ist ein UMA - ein „Unbegleiteter minderjähriger Ausländer“, einer von vielen Kindern und Jugendlichen, die aus ihren Herkunftsländern alleine nach Deutschland gekommen sind. Diese Kinder und Jugendlichen haben nach dem Übereinkommen der Vereinten Nationen ein Recht darauf, „dem Kindeswohl entsprechend untergebracht, versorgt und betreut zu werden“. Momentan leben im Kreis Tuttlingen 39 UMA, die aus Syrien, Afghanistan oder der Türkei gekommen sind.

28 UMA werden durch Mutpol betreut, elf leben bei Verwandten

Für 26 dieser Kinder und Jugendlichen wird eine Vormundschaft beim Jugendamt geführt, so auch für Irfan. Bei den anderen handelt es sich entweder um junge Volljährige oder um Kinder und Jugendliche, bei denen die Vormundschaft jemandem aus dem sozialen Nahfeld übertragen wurde. Oder sie sind noch in der vorläufigen Inobhutnahme, ein Vormundschaftsbeschluss gibt es noch nicht.

Für UMA ist eine Vormundschaft bis zur Volljährigkeit notwendig. Dann endet die Vormundschaft. Ein Verbleib in Jugendhilfemaßnahmen ist aber dennoch bis 21 Jahren möglich.

15 UMA besuchen aktuell die Schule. Die anderen befinden sich in Alphabetisierungsmaßnahmen, Sprachkursen oder werden auf die Schule vorbereitet. In Ausbildung oder Praktikum ist momentan keiner.

Irfan kam zunächst in eine Inobhutnahmestelle auf dem Stammgelände bei Mutpol. „Während dieser Zeit erfolgte unter anderem eine Abklärung der Bedarfe und die Suche nach einem gegebenenfalls langfristigen, passenden Angebot“, teilt das Landratsamt auf Nachfrage mit. Die aktuelle Wohngruppe in der Jetterstraße ist eine „Verselbstständigungsgruppe“, die Irfan langfristig begleiten soll. (iw)
 

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