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TUTTLINGEN – Die Zahl psychisch kranker Kinder und Jugendlicher im Landkreis Tuttlingen hat sich in den vergangenen Jahren vervielfacht. Waren es 2010 laut Landratsamt acht Fälle, stieg die Zahl 2013 auf 32 und im vergangenen Jahr auf 41. Als Gründe sehen Fachleute unter anderem eine Verbesserung der Diagnostik und der Prävention. Die Diakonische Jugendhilfe Mutpol in Tuttlingen ist eine der Einrichtungen, die Mädchen und Jungen mit kinder- und jugendpsychiatrischen Diagnosen zurück auf den Weg zu einer Teilhabe an der Gesellschaft bringen will.



Einer der Bewohner des Haus sieben bei Mutpol in seinem Zimmer.
Psychisch kranke Kinder und Jugendliche werden dort in Wohngruppen betreut.  Foto: Michael Hochheuser


Zum Beispiel Jonathan. "Ich habe immer danach geschrien, anderen Menschen vertrauen zu können." Seit knapp zwei Jahren lebt der 16-Jährige in einer Wohngruppe bei Mutpol. Jonathan (Namen der Jugendlichen von der Redaktion geändert) hat eine Bindungsstörung – soziale Kontakte zu Vertrauenspersonen wie seinen Eltern hat er nie gelernt. "Die haben sich viel gezofft", erzählt er. Im Internat und einem Heim sei er "schikaniert worden, weil ich immer der Schwächere war".

200 Kinder werden betreut

Mit fünf anderen Mädchen und Jungen lebt er im Haus sieben. Insgesamt 200 Kinder und Jugendliche werden bei Mutpol stationär oder teilstationär betreut. Kinder mit Depressionen sind darunter, Autisten, Schulverweigerer oder Jugendliche mit einer Sozialphobie - letztere haben Probleme, das Haus zu verlassen, weil sie Angst haben vor sozialen Kontakten. "Wir haben seit einer Woche ein Mädchen da, das noch kein Wort gesprochen hat", sagt Renée Drossard vom Mutpol-Fachdienst für die therapeutische Unterstützung. Die Betreuer der Wohngruppen, die als Familienersatz wirken sollen, erstellen für die einzelnen Kinder individuelle Pläne und Ziele. "Wichtig für uns ist, wie wir ihnen Normalität vermitteln können."

Ein Ansatz ist, sie in Vereine zu integrieren. "Beschützte Übungsfelder erschließen" heißt das in der Fachsprache. "Ein Junge ist beim Jugendrotkreuz und geht darin völlig auf", berichtet Drossard. Eine Autistin gehe jetzt zum Kinderzumba "und findet es wunderbar". Bei anderen Fällen scheitere die Suche nach einem Betätigungsfeld, "aber in der Mehrzahl funktioniert es".

So bei Marcel, der bei einem Tuttlinger Verein Hip-Hop tanzt. "Ich liebe tanzen", sagt der 14-Jährige. Auch er ist laut Drossard bindungsgestört. Seine Eltern sind Alkoholiker, zwei seiner fünf Geschwister werden ebenfalls bei Mutpol betreut. Sie schwänzten häufig die Schule, weil sich die Eltern nicht um sie kümmerten. "Ich habe ganz viel geweint, bin oft abgehauen", erzählt der Junge. Inzwischen besucht er eine Schule in der Kreisstadt, "ich schwänze gar nicht mehr".

"60 Prozent der hier betreuten Kinder und Jugendlichen sind nach zwei Jahren wieder zuhause", erläutert Mutpol-Gesamtleiter Dieter Meyer. Die übrigen 40 Prozent jedoch seien "über mehrere Jahre hier bis zur Volljährigkeit". Als Grund für den Anstieg der Fallzahlen sehen die Mutpol-Mitarbeiter wie Drossard unter anderem die "präzisere Diagnostik – wir haben autistische Kinder hier, die vor zehn Jahren noch nicht so diagnostiziert worden wären".

"Man schaut genauer hin", sagt auch Christina Martin, Leiterin des Amts für Familie, Kinder und Jugend bei der Tuttlinger Kreisbehörde. Als weiteren Grund für die Zunahme der Fälle bei jungen Menschen sieht sie, dass auch die Zahl psychischer Erkrankungen bei Erwachsenen wachse. "Das hat auch Auswirkungen auf deren Kinder - das Risiko, dass diese selber psychisch auffällig werden, ist höher." In Baden-Württemberg seien es jährlich 35 000 Kinder, deren Eltern behandelt würden aufgrund einer psychischen Erkrankung. Familien seien heute häufiger "eher brüchig, nicht mehr so verlässlich wie noch vor zehn, 15 Jahren", sagt Martin. Daraus und durch Faktoren wie erhöhten Leistungsdruck in Schulen oder Mobbing erhöhe sich die Belastung für Jugendliche.

Darum, dass deren Wiedereingliederung in die Gesellschaft gelingt, kümmern sich die Mutpol-Mitarbeiter. Bei den drei stationären Wohngruppen à sechs Zehn- bis 17-Jährigen sind fünf Sozial- und Heilpädagogen, Arbeits- und Jugendheilerzieher rund um die Uhr an 365 Tagen jährlich im Schichtdienst im Einsatz. "Durch den Alltag baut sich allmählich eine Beziehung auf", berichtet Helene Kleber, Bezugsbetreuerin im Haus sieben. So habe sie das Vertrauen zum bindungsgestörten Jonathan über ein gemeinsames Hobby gewinnen können – Hunde.

Projekt "Leben lernen"

Um Kinder und Jugendliche mit Autismus-Spektrum-Störungen kümmert sich seit zwölf Jahren Martina Wangler. 27 Kinder und Jugendliche aus dem Kreis Tuttlingen und Nachbarlandkreisen, die daheim wohnen, besuchen bei Mutpol die Autistenklassen in drei Stufen. Beim Projekt "Leben lernen" trainiert die sozialpädagogische Fachkraft mit den Autisten ganz alltägliche Dinge, geht mit ihnen zum Beispiel in die Stadt zum Tee trinken oder einkaufen. "Für manchen ist es eine Hürde, Bus zu fahren, anzustehen oder etwas zu bestellen." Um einen Bezug zu den Autisten herzustellen, versuche sie, "auf emotionaler Ebene an sie ran zu kommen". Etwa mittels des "Gefühlswürfels", der verschiedene Gesichtsausdrücke wie Freude oder Zorn zeigt. "Autisten haben Schwierigkeiten, ihre Gefühle verbal zu äußeren und die anderer Menschen zu erkennen."

Sven ist seit drei Jahren einer der Schüler der Autistenklasse. "Ich war anders als die anderen", erzählt der 17-Jährige. An anderen Schulen sei er gemobbt worden. "Er kennt das gesamte Gotteslob auswendig", berichtet Wangler von seiner besonderen Merkfähigkeit beim katholischen Gesangsbuch. Und er braucht feste Strukturen. "Ich stehe jeden Morgen um 5 Uhr auf und höre bis 6.45 Uhr SWR 4", sagt Sven. "Und wenn ich von der Schule zurückkomme, schalte ich das Radio sofort wieder an."

"Autisten brauchen eine ganz feste Tagesstruktur", erläutert die stellvertretende Schulleiterin Nicole Locher. "Wir versuchen, ihnen viel Sicherheit zu geben durch einen strukturierten Tagesablauf und immer gleiche Bezugspersonen" – als "Türöffner" zu deren Seele.
 

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