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Landkreis will sich bei Inklusion breiter aufstellen

Für eine gezielte Förderung in Schulen und Kindergärten sollen Fachkräfte gebündelt werden

Schulbegleiter sollen Kindern mit Behinderungen helfen, damit sie an einer Regelschule unterrichtet werden können. (Foto: Katharina Eckhardt)


Von Matthias Jansen

TUTTLINGEN – Es gibt zu viele Fälle, es gibt zu wenig Fachkräfte. Gleichzeitig aber gibt es einen Rechtsanspruch darauf, dass Kinder mit Einschränkungen ohne Unterschied zu anderen Heranwachsenden in Kindergärten und Schulen betreut werden sollen. In diesem Dilemma steckt der Landkreis Tuttlingen und denkt über eine Lösung nach, die vielleicht nicht allen gefallen wird.

„Bisher haben die Träger der Einrichtungen die Begleitung organisiert. Wir haben die Kosten übernommen. Da kommen wir aber an Grenzen: Stichwort Personal“, erklärte Landrat Stefan Bär. In Zukunft könnten die Träger von der Aufgabe, Personal bereitstellen zu müssen, befreit werden. „Dann müssen sie aber akzeptieren, wen sie in die Einrichtungen geschickt bekommen.“

Dass Kinder mit Einschränkungen in Sonderpädagogischen Bildungs- und Beratungszentren oder Sonderschulkindergärten gefördert werden, soll eigentlich eine Ausnahme sein. Die Politik strebt nach Inklusion statt nach Exklusion. Das Vorhaben, die Kinder zu fördern, sei unstrittig, erklärte Bär, würde die Kreise und Kommunen aber vor Probleme stellen. Eine Schulbegleitung oder Integrationshilfe für Kinder und Jugendliche mit geistigen, körperlichen oder seelischen Behinderungen lässt sich kaum noch gewährleisten. „Wir merken, dass das bisherige System zu rutschen beginnt“, machte Bernd Mager, Dezernent für Arbeit und Soziales beim Kreis, deutlich.

Zwar eröffnet das Bundesteilhabegesetz die Möglichkeit, dass ein Schulbegleiter sich um mehrere Schüler mit Einschränkungen kümmern darf. Zuvor hätte jedes Kind einen Anspruch auf einen Betreuer gehabt. Aber selbst das erscheint angesichts der vielen Fälle und der wenigen Fachkräfte nicht leistbar. Mit der Folge, dass Kinder mit Einschränkungen trotz Rechtsanspruch und Schulpflicht nicht ausreichend betreut oder nicht beschult werden.

Um das zu ändern, schwebt der Kreisverwaltung eine „Pool“-Lösung vor. Alle verfügbaren Fachkräfte sollen zentral verwaltet und nach Bedarf an die Bildungseinrichtungen geschickt werden. „Zur Betreuung der Kinder mit geistiger oder körperlicher Behinderung oder mit Verhaltensauffälligkeiten braucht es unterschiedliche Professionen. Der Verbund ist so gedacht, dass wir uns bei den Professionen und bei der Schlagkraft besser aufstellen, um die Kinder gut zu versorgen“, erläuterte Christina Martin, Leiterin des Jugendamts. Man müsse die Ressource Personal für alle verlässlicher machen, erklärt Bär. Widerspruch könnte von den Einrichtungen kommen, die selbst über entsprechende Mitarbeiter verfügen, diese nun aber mit anderen Bildungsangeboten teilen müssten. Dennoch will der Kreis mit den Anbietern der Jugend- und Eingliederungshilfe ins Gespräch kommen, um ein notwendiges Konzept für die Zukunft zu erarbeiten. Das neue Vorgehen könnte für die Kinder einen entscheidenden Vorteil bringen. Bisher wurde die Unterstützung über eine Pauschale abgerechnet. Somit könnte der Träger je nach Bedarf ermitteln, wie viele Stunde am Tag das Kind von der Betreuung profitieren darf. „Wir müssen davon weg“, meinte Mager. Und Martin ergänzte, dies werde dem Kreis als verantwortlicher Institution möglicherweise auf die Füße fallen, zumal eine bessere Betreuung einklagbar sei.

Die Zahlen für Schulbegleitungen von Kindern mit körperlicher und geistiger Behinderung (Jahr 2022: 30 Fälle) sowie seelischer Behinderung (2022: 10) sind in den vergangenen Jahren gestiegen, befinden sich aber weiter auf einem niedrigen Niveau. Erkennbar ist, dass die Fallzahl sich vor allem in der Grundschule erhöht hat und den Hauptteil der Fälle ausmacht. Der Kreis rechnet damit, dass sich die Werte insgesamt und dann auch die Ausgaben erhöhen werden. In anderen Land- und Stadtkreisen seien diese in den vergangenen Jahren geradezu explodiert.

Gründe für den Anstieg sind, zum einen, dass Eltern auch aufgrund des Rechtsanspruchs die inklusive Beschulung deutlich häufiger einfordern. Zum anderen sind die Sondereinrichtungen überfüllt und es gibt sehr lange Wartelisten. Ein dritter Grund ist, dass Kinder, bei denen schon im Kindergarten Probleme in der emotionalen, sozialen Entwicklung erkannt worden sind, trotz festgestelltem sonderpädagogischem Bedarf an die Regelschulen zurückverwiesen werden. Seit Herbst 2022, das teilt die Kreisverwaltung mit, würden Kinder in Kitas ohne entsprechende Integrationskraft zum Teil auch nicht aufgenommen. Mager und Martin stellten zudem heraus, dass – wenn es keine frühzeitige Förderung der Kinder gebe – im späteren Verlauf deutlich höhere Kosten beispielsweise durch die Jugendhilfe auf die Verwaltung zukommen würden.

Dieter Meyer, Leiter von Mutpol, lobte die Verwaltung für das Vorgehen. „Ich finde das gut und richtig, das jetzt anzugehen.“ Vor allem, weil die Zahlen verhaltensauffälliger Kinder seit Jahren steigen würden und diese von Betreuungsangeboten „ausgesondert“ und dann „ungefördert zu Hause“ blieben. Bernhard Schnee (CDU) mahnte an, dass man stärker versuchen müsse, die Eltern von verhaltensauffälligen Kindern zu erreichen, um Hilfestellung zu geben. „Das wäre ideal. Aber de facto ist das nicht so. Die Zuversicht, dass Eltern sich darum kümmern, tendiert gegen Null. Wir reden in dem Punkt eher über einen Reparaturbetrieb.“


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