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Interview: „Arbeit mit Tätern beugt auch neuen Taten vor“

Tobias Ilg von der psychologischen Beratungsstelle über den Umgang mit sexuell grenzverletzten Kindern

Von Regina Braungart

Tobias Ilg ist Dipl. Sozialarbeiter und Systemischer Familientherapeut der psychologischen Beratungsstelle des Landkreises. (Foto: Sascha Zander)

SPAICHINGEN / HEUBERG / LANDKREIS TUTTLINGEN – Gewalt ist ein Thema auch in Schulen. Die entsprechenden Institutionen im Kreis Tuttlingen beobachten eine Zunahme und auch, dass Gewalt „jünger“ wird. Auch Mobbing, Cybermobbing, Cybergewalt ist an allen Schulen ein großes Thema, in den Städten wie den Dörfern. Dazu kommt das Versenden von kompromittierenden Bildern und sexualisierte Gewalt – auch in Form von Kinderpornografie. Kinder sind ebenfalls gefährdeter, Opfer sexuellen Missbrauchs zu werden. Was viele sicher nicht wissen: 40 bis 50 Prozent der Missbrauchstäter/innen und 30 Prozent der Vergewaltiger zeigten vor ihrem 18. Lebensjahr sexuell abweichendes Verhalten. Regina Braungart hat den Dipl. Sozialarbeiter und Systemischen Familientherapeuten der psychologischen Beratungsstelle, Tobias Ilg, befragt.

Entsetzt schaut die Gesellschaft auf die jüngsten Fälle von schwerster Gewalt von Kindern gegen Kinder. Auch hilflos, wie man mit strafunmündigen Täterinnen oder Tätern umgehen soll. Ist das ein strukturelles Problem bei uns?
Ja, denn es gibt kaum Angebote zur Prävention für Täterinnen und Täter und es gibt meiner Meinung nach zu wenige Schulsozialarbeiter. Auch die schulpsychologische Beratungsstelle und wir, also die psychologische Beratungsstelle, haben nur begrenzte Kapazitäten. Das Angebot reicht nicht aus.

Aber gibt es überhaupt einen institutionellen Anknüpfungspunkt an strafunmündige Täter und Täterinnen? Mir scheint fast, als ob es ab der Strafmündigkeit ein gut eingespieltes System gibt, aber eben vorher nicht.
Es gibt pädagogische Maßnahmen im Kreis Tuttlingen – wie JuKoP, eine einmalige Einrichtung in Kooperation von Jugendamt und Polizei, die hervorragende Arbeit leistet. Aber mehr ist mir nicht bekannt.

Geht JuKoP in die Richtung, die Sie sich wünschen und jetzt mit AntiTAT weiter einrichten wollen?
Das ist eine andere Schiene, aber ergänzt sich. Rück-Sicht, eine neue Fachstelle, füllt da eine Lücke, darum beteiligen sich auch die Akteure von JuKoP seit der ersten Stunde beim großen Arbeitskreis von AntiTAT.

Wir haben an Schulen hier in Spaichingen und auf dem Heuberg immer wieder mit Mobbing zu tun. Spricht man bei Eltern das Thema an, kommen auch in ländlichen Bereichen viele solcher Fälle zutage. Die Reaktion ist aber oft, dass die Eltern ihre gemobbten Kinder von der Schule nehmen, aber die Täter oder Täterinnen bleiben. Ist das gerecht? Ist das auch fachlich richtig?
Was gerecht ist, vermag ich nicht zu beurteilen. Auf jeden Fall ist es kein gutes Signal an einen Betroffenen von Gewalt, wenn er gehen muss. Dazu kommt, dass es bei Gewalt oft lange dauert, bis es öffentlich wird.

Wo greift man denn am besten ein, wenn es solche Täter-Opfer-Beziehungen gibt?
Am besten natürlich frühzeitig. Oft gibt es ja ein großes Machtgefälle, mehrere gegen einen. Da braucht das Opfer auf jeden Fall Hilfe. Und so Sprüche wie: „Wehr dich halt und geh denen aus dem Weg!“, sind nicht dienlich. Denn das würden die Betroffenen ja machen, wenn sie könnten. Wichtig ist, offen und hellhörig zu sein. Wenn ein Kind zum Beispiel sagt: Diese und jene piesacken mich – dann nicht mit „Stell dich nicht so an!“ zu reagieren. Denn da fängt das Bagatellisieren schon an. Das nicht zu tun ist ein erster Schritt gegen Gewalt.

Aber wo liegt denn da die Grenze? Es gibt ja auch Menschen, die sich ständig als Opfer fühlen, vielleicht weil sie eine depressive Phase haben oder ähnliches? Also wo ist die Grenze zwischen: Ich bin wirklich ein Opfer und ich bin immer das Opfer?
Das muss man natürlich immer im Einzelfall anschauen. Irgendwoher muss das Selbstbild ja kommen und da ist es hilfreich, wenn der Mensch bereit ist mit Fachleuten zu reflektieren: Was ist mein Selbstbild?

Was passiert im Moment im Landkreis mit jungen Tätern und Täterinnen?
Im Landkreis und darüber hinaus gibt es sehr wenige Angebote. Das ist ja unser Problem, wir bräuchten – bildlich gesprochen – für Täter und Täterinnen einen Facharzt, haben aber nur Allgemeinärzte, sprich, es gibt nichts Zugeschnittenes. Darum hat sich vor drei Jahren die Antigewaltinitiative opfergerechter Täter*innenarbeit gegründet. Es gibt ja seit Jahren Phönix als Anlaufstelle für Opfer sexualisierter Gewalt auch in Zusammenarbeit mit der psychologischen Beratungsstelle und seither war immer das Thema: Was machen wir mit grenzverletzenden Kindern und Jugendlichen? Es gibt bei Pro Familia nur vier Plätze in Villingen-Schwennigen und ein Jahr Wertezeit und das Angebot von Pfunzkerle in Tübingen ist einfach nicht praktikabel. Sonst gibt es nichts. Deshalb haben sich Phönix, die psychologische Beratungsstelle und jetzt Mutpol zusammengetan und uns auf den Weg gemacht zusammen mit weiteren Einrichtungen, diese Versorgungslücke zu schließen. Daraus ist die Fachstelle Rück-Sicht, angegliedert bei Mutpol, entstanden, die hoffentlich im Herbst öffnen kann. Diese kümmert sich um Kinder und Jugendliche, die sexuell grenzverletzendes Verhalten zeigen. Aber alle anderen Bereiche der Täter- und Täterinnenarbeit sind immer noch unterversorgt.

Die Fachstelle Rück-Sicht soll jetzt beginnen und die Rückfälle von sexuell übergriffigen Kindern und Jugendlichen durch Gespräche und Trainings vermeiden helfen in einem 50 Stunden dauernden Prozess. Was gehört noch zu AntiTAT?
Schulungen, der große Arbeitskreis verschiedenster Einrichtungen, das Kernteam, Prävention und eine Anlaufstelle auf kurzem Weg für Fragen zum Beispiel von Schulen und Kindergärten.

Untersuchungen zeigen, wie wichtig und sinnvoll präventive Arbeit für potenziell sexuell grenzverletzende Täter, auch erwachsene, ist. Gibt es da ein Angebot im Kreis Tuttlingen für Erwachsene?
Es gibt die Behandlungsinitiative Opferschutz, die auch für den Kreis Tuttlingen zuständig ist. Die ist in Rottweil, aber sonst müssen Erwachsene nach Ulm oder Freiburg fahren.

Das heißt, für das ganze Thema ist der Kreis Tuttlingen ein bisschen ein weißer Fleck, oder?
Ja. Es gibt Anti-Gewalt- oder Aggressionstrainings, aber im Bereich sexualisierter Gewalt ist mir zumindest nichts bekannt. Und die Beteiligten der Initiative AntiTAT machen das ohne Deputat, also zusätzlich zu ihrer eigentlichen Arbeit, getragen von den jeweiligen Institutionen. Weil es uns wichtig ist, hier im Landkreis weiterzukommen.

Und Sie versuchen, diesen Bereich jetzt zu institutionalisieren?
Genau. Dazu gehörte auch die Veranstaltungsreihe im vergangenen Jahr, bei denen auch die Referenten teils kostenlos mitgewirkt haben.

Was ist eigentlich opfergerechte Täter*innenarbeit?
Dass man das Opfer im Blick hat und es nicht zu einer Täter-Opfer-Umkehr kommt. Also dass der Täter mit seiner Tat und deren Folgen für die Opfer konfrontiert wird und sich nicht selbst als Opfer sieht. Das er Verantwortung für sein Handeln und dessen Folgen übernimmt, statt sich herauszureden oder zu verharmlosen. Dass man die Opferperspektive vertritt. Manche schrecken vor dem Thema Täterarbeit zurück, weil sie sich verständlicherweise um die Opfer kümmern wollen, aber Arbeit mit Tätern beugt immer auch neuen Taten vor und ist damit ein wichtiger Teil des Opferschutzes.

Täter-Opfer-Umkehr ist ja auch bei Mobbing oft der Fall, dass die Mobbenden sagen: Die bilden sich das ein, das ist nur Spaß. Wie lernt das ein Täter, diesen Perspektivwechsel? Gibt es zum Beispiel ein Training auch für mobbende Schüler, Schülerinnen bei uns?
Es gibt dazu Trainings, die man etwa in Schulklassen machen kann wie das Freiburger Sozialtraining bei Mobbing. Aber spezialisierte Trainings wären mir nicht bekannt. Es gibt gute Konzepte bei sexuellen Grenzverletzungen, aber auch dazu muss die beteiligte Stelle entsprechend ausgebildet sein.

Der Laie sagt sich doch: Wenn es ein Kind gibt, das gezielt ein anderes schlägt, um Geld erpresst, erniedrigt, dann müsste das ein solches spezialisiertes Training machen. Aber das gibt es im Kreis Tuttlingen nicht, oder?
Das wäre mir zumindest nicht bekannt. Aber die Erziehungsberatung bei der psychologischen Beratungsstelle ist für jeden zugänglich, Opfer wie Täter. Dort wird versucht weiter zu vermitteln. Wolfgang Dollansky/Zentrum Chon Ji arbeitet seit Jahrzehnten mit straffällig gewordenen Jugendlichen, oder mit denjenigen, die Auflagen haben, um nicht verurteilt zu werden. Bei körperlicher Gewalt, Mobbing und ähnlichem. Ob das aber ein spezialisiertes Programm ist, weiß ich nicht.


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