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Interview: „Wir kommen an die Grenzen des Machbaren“

Kreisjugendamtsleiterin Christina Martin über die Zunahme von Misshandlungen und Verwahrlosung von Kindern


Raus aus der Familie: Das muss das Jugendamt bei immer mehr Kindern und Jugendlichen tun, um sie zu schützen. (Archiv-Foto: Patrick Pleul/dpa)


Von Ingeborg Wagner

LANDKREIS TUTTLINGEN – Das Tuttlinger Kreisjugendamt hat immer mehr zu tun, die Fallzahlen gehen stetig nach oben. Hinter jedem Fall steckt eine Geschichte und das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen. Sozialdezernent Bernd Mager sprach im Kreistag von einigen „krassen Fällen“. Redakteurin Ingeborg Wagner unterhielt sich mit Kreisjugendamtsleiterin Christina Martin (Foto: iw) darüber.

Frau Martin – was sind das für Fälle, die da angesprochen wurden? Was macht sie so speziell?

Speziell ist vor allem die Masse. Wir spüren steigende Zahlen, und bei diesen steigenden Zahlen gibt es auch einige Fälle, die besonders schwierig sind, die das System der Kinder- und Jugendhilfe an die Grenze bringen.

Warum das?

Wir hatten in jüngster Zeit mehrfach den Fall, dass wir gleich mehrere Geschwisterkinder, die in der Regel auch unter zehn Jahren alt waren, unterbringen mussten. In einer Woche waren das sogar mal sechs oder sieben. Das wirbelt die Versorgungslandschaft und uns natürlich kräftig durcheinander. Wir müssen ja erst mal wissen, wohin, und das bei Kindern in diesem Alter und so gehäuft. Das prägt sich ein. Und wir fragen uns: Was ist hier eigentlich los? Unterm Strich ist es gut ausgegangen, den Kindern geht es zum Glück auch gut, auch wenn anfangs große Fragezeichen dahinter standen. Ich denke, wir müssen da auch weiterhin sehr wachsam bleiben.

Was waren die Gründe, weshalb die Kinder aus den Familien genommen werden mussten?

Die ganze Bandbreite: Verwahrlosung, Misshandlung, auffallend waren auch die psychischen Belastungsfaktoren, bei Kindern wie auch bei den Eltern. Da merken wir den Bezug zu Corona sehr deutlich, diese Fälle steigen spürbar an. Die Inobhutnahmen von Kindern und Jugendlichen, also dass sie aus ihren Familien genommen werden müssen, haben sich von Januar bis April im Vergleich zum Vorjahr verdoppelt, von zehn auf 20. Dabei waren die Zahlen auch im vergangenen Jahr schon auffallend hoch. Wir spüren im Grunde seit Sommer 2021 einen stetigen Anstieg, und in diesem Jahr ist er besonders deutlich. In diesem Ausmaß habe ich das noch nie erlebt.

Wo konnten sie die Kinder unterbringen? Vor allem für kleinere Kinder unter sechs Jahren gibt es ja nur wenige Einrichtungen.

Ja, deshalb versuchen wir, das vermehrt in Pflegestellen aufzufangen. Aber auch da sind wir an einer Grenze angekommen, sodass wir auf Einrichtungen wie Kleinstheime ausweichen oder uns etwas ganz Individuelles ausdenken mussten. Bis dahin, dass es im Raum stand, ob ein Mitarbeiter aus unserem Haus von der Familienhilfe ein Kind mit zu sich nehmen kann. Oder ein Betreuer bei Mutpol es vorübergehend bei sich zu Hause aufnimmt. Letztlich war es nicht notwendig, aber allein, über solche Lösungen nachzudenken, zeigt uns: Da ist was neu. Wir haben den Anspruch, die unter Sechsjährigen in familiären Settings unterzubringen. In der Altersgruppe sechs bis zehn hat Mutpol die Kinder nun in die Wohngruppen aufgenommen, wobei diese Altersgruppe eigentlich noch gar nicht deren Klientel ist.

Sie haben auch angesprochen, dass bei einem Jugendlichen eine Eins-zu-eins-Betreuung mit einer pädagogischen Fachkraft 24 Stunden am Tag notwendig geworden ist. Warum diese extrem enge Betreuung? Wo wird die überhaupt geleistet? Und sind solche Fälle neu oder häufen sie sich derzeit gerade?

Das war tatsächlich ein Einzelfall, bei dem wir Mühe hatten, überhaupt eine Unterbringungsmöglichkeit zu finden. Das geht in Richtung Systemsprenger. Auch wir waren ratlos, was man noch tun kann, denn so vieles ist bereits gescheitert.

Auch die Zahlen für eine gemeinsame Unterbringung für Mutter und Kind steigen. Wann ist das angebracht?

Das machen wir dann, wenn wir Mütter haben, die auch unter Zuhilfenahme ambulanter Hilfen die Kinder nicht sicher versorgen können und wir einen weitergehenden Rahmen brauchen, um das Kind zu sichern. Normalerweise gibt es pro Jahr zwischen einem und fünf Fälle, zwischenzeitlich liegen diese Zahlen zwischen fünf und zehn. Diese Unterbringung ist für uns auch diagnostischer Ansatz mit der Fragestellung, ob das Kind dauerhaft bei der Mutter bleiben kann. Ist sie in der Lage, für dieses Kind zu sorgen oder müssen wir den schwierigen Schritt der Trennung in Betracht ziehen? Die letzten Jahre war es da relativ ruhig, jetzt zeigt sich eine steigende Tendenz. Das kommt vielleicht auch durch den Baby-Boom durch Corona, das könnte eine Rolle spielen. Aber das ist ja auch schön, dass nun mehr Kinder auf die Welt kommen.

Sie haben das Thema mehrfach angesprochen: Ist Corona wirklich an allem schuld?

Der Anstieg in der Fallbelastung hängt aus unserer Sicht eins zu eins damit zusammen, das kann man nicht schön reden. Man darf nicht vergessen, dass viele Dinge in den Familien ja eine Zeit ganz gut funktionieren, wenn keine Anforderungen da sind. Wenn die Kinder nicht regelmäßig zur Schule und in den Kindergarten müssen, angemessen angezogen und versorgt sind. Doch wenn diese Normalität wieder startet, muss man den Schritt machen, wieder zu funktionieren. Da scheitern viele dran, sie schaffen diesen Weg nicht.

Wie schauen Sie in die nächsten Monate?

Gespannt bis angespannt. Weil ich merke, dass wir an die Grenzen des Machbaren kommen. Die Fallzahlen sind extrem hoch, die Versorgungslage ist im Grunde ausgereizt und unser Personal ebenfalls angespannt. Wie andere Betriebe auch, haben wir Krankheitsfälle. Das alles aufzufangen, ist eine Herausforderung.

 

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