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Interview: Jugendamt: „Der große Knall kommt noch“

Hinweise auf Kindswohlgefährdung und Inobhutnahmen steigen – Vieles wird momentan durch Corona verdeckt



Mit den tatsächlichen Auswirkungen von Corona rechnet das Jugendamt erst in einem halben bis ganzen Jahr. (Symbol-Foto: dpa/Patrick Pleul)


Von Ingeborg Wagner

TUTTLINGEN – Was macht Corona mit den Familien? Und besonders mit denen, die ohnehin belastet sind? Christina Martin, Leiterin des Kreisjugendamts Tuttlingen, bemerkt steigende Zahlen bei den Inobhutnahmen, das sind die Fälle, in denen Kinder und Jugendliche aus den Familien genommen werden müssen. Im Gespräch mit Redakteurin Ingeborg Wagner äußert sie aber auch die Befürchtung, dass sich die Auswirkungen von Corona erst noch massiv zeigen werden.

Frau Martin – hat sich Corona als Pulverfass herausgestellt?

Für viele Familien war das sicherlich so. Ich bin aber auch überzeugt davon, dass etliche, mit denen wir zusammenarbeiten, auch erleichtert waren, dass ein gewisser Druck und Anforderungen erst einmal weggefallen sind. Auch, weil wir vom Jugendamt zunächst keine festen Termine machen konnten. Das waren die, die uns Sorgen gemacht haben, da haben wir speziell hingeschaut.

Wieso konnten Sie zeitweise keine Termine wahrnehmen?

Unser Auftrag umfasst den Schutzauftrag für Kinder und Jugendliche. Aber coronabedingt konnten wir das anfangs gar nicht so praktizieren, wie das notwendig gewesen wäre. Besonders problematisch war der erste Lockdown, bei dem die Jugendhilfe in den ersten acht Wochen gar nicht als kritische Infrastruktur definiert war.

Wie bitte?

Ja, das war arg schwierig. Wir standen oft vor der Entscheidung, verstoßen wir gegen Corona-Regeln oder laufen wir Gefahr, einem Kind nicht gerecht zu werden? Diese Gratwanderung haben wir für uns so entschieden, dass das, was für das Kindswohl notwendig ist, auch gemacht wird. Damit liefen wir zwar Gefahr, dass unsere Mitarbeiter einem höheren Infektionsrisiko ausgesetzt sind, aber in bestimmten Fällen reicht es nicht, per Telefon oder Videokonferenz mit den Familien zu konferieren, durch die wir keine oder nur sehr kleine Einblicke in die Situation bekommen haben.

Hatten Sie infizierte Mitarbeiter?

Tatsächlich gab es zum Glück nur ganz wenige Fälle bei uns im Jugendamt, und keine dieser Infektionen war auf die Arbeit zurückzuführen.

Fachleute gehen davon aus, dass sich die Ausmaße der Pandemie - auch, was die Gefährdung des Kindswohls betrifft - erst in ein paar Jahren zeigen werden. Teilen Sie diese Ansicht?

Ja. Ich gehe davon aus, dass der große Knall erst in einem halben oder Jahr kommt. Das ist schwierig, zu prognostizieren. Durch die Corona-Beschränkungen ist der Kreis derer, die normalerweise auf belastete Familien schauen, relativ klein geworden. Das heißt, vieles bleibt erst mal in den Familien. Wenn jetzt Schulen und Kindergärten wieder öffnen, dann haben Lehrer und Erzieher zwar wieder mehr Einblicke, aber es dauert, bis Misshandlungen oder Vernachlässigungen sichtbar werden. Ein Kind erzählt ja nicht, dass es seit Wochen zuhause verprügelt wird. Da ist ein Zeitversatz drin, bis das erkannt oder ein Verdacht geäußert wird.

Wie viele Akutsituationen durch Anzeigen beziehungsweise Hinweise kamen 2020 und seit Beginn dieses Jahres bei Ihnen an?

Wir hatten vergangenes Jahr 154 Kindesschutzmeldungen, davon bis 15. Juni 61 an der Zahl. In diesem Jahr sind die Zahlen höher: Bis 15. Juni waren es bereits 78 Meldungen wegen Kindswohlgefährdungen. Man merkt eine Steigerung, und ich gehe davon aus, dass das so weitergeht. Denn momentan wird es trotz Sommerferien nicht ruhiger. Das ist untypisch und beunruhigt mich. Positiv ist aber, dass sich zeigt, soziale Kontrolle funktioniert auch in der Pandemie. Hinweise aus dem sozialen Nahfeld, wie Nachbarn oder Verwandte, gingen verstärkt bei uns ein. Die meisten Meldungen sind aber von der Polizei und aus dem medizinischen Sektor.

Und wenn Gefahr im Verzug ist?

Im vergangenen Jahr hatten wir 76 Kinder und Jugendliche, die wir Inobhut genommen haben. In diesem Jahr waren es bis 1. August schon 55. Wenn ich das hochrechne, dann sind das für dieses Jahr sicherlich über 100. Also auch deutlich mehr.

Was muss passieren, damit Sie Kinder in Obhut nehmen?

Grundlage ist immer eine vorliegende Gefährdungslage für Kinder oder Jugendliche, die die Familie auch mit Unterstützung nicht abwenden kann. Entgegen der landläufigen Ansicht handelt es sich zu rund 70 Prozent um Kinder und Jugendliche, die sich selbst bei uns melden beziehungsweise deren Eltern eine Inobhutnahme wünschen. Nur etwa 30 Prozent der Inobhutnahmen werden gegen den Willen der Erziehungsberechtigten und unter Beteiligung des Familiengerichtes durchgeführt. Dies ist immer dann der Fall, wenn der Schutz des Kindes nicht auf anderem Weg erreichbar ist oder Eltern keine Problemeinsicht zeigen. Die, die wir aus den Familien nehmen, sind vor allem kleinere Kinder.

Wie gehen Sie dabei vor?

Jeder Hinweis auf Kindeswohlgefährdung wird von mehreren Mitarbeitern des Jugendamts samt Leitung am selben Tag, an dem die Meldung eingegangen ist, besprochen und bewertet. Zwingend dafür ist ein Hausbesuch sowie die Inaugenscheinnahme des Kindes, was in der Regel am Tag des Meldungseingangs umgesetzt wird. Dann wird geschaut, ob das Kind weiter in der Familie bleiben kann oder sofort dort weg muss. Manchmal gibt es eine innerfamiliäre Lösung, sodass das Kind für ein paar Tage zu seiner Großmutter oder einer Tante gehen kann, bis sich die Situation entspannt hat. Oft ist es aber so, dass die Kollegen rausfahren und mit Kind und Kegel wieder zurückkommen.

Wo bringen Sie diese Kinder unter?

Die Größeren kommen in die Wohngruppen bei Mutpol. Die unter Sechsjährigen kommen zu Familien in die Bereitschaftspflege. Aber auch das hat sich durch die Corona-Pandemie verkompliziert, da Aufnahmekapazitäten in Familien aus Infektionsschutzgründen teilweise eingeschränkt waren. Deshalb waren immer wieder kreative Lösungen nötig. So hatten wir zum Beispiel auf einmal drei kleine Kinder aus einer Familie unterzubringen und keine freie Pflegestelle. Ein Mutpol-Mitarbeiter und seine Frau, die ohnehin geplant hatten, eine Erziehungsstelle einzurichten, also Kinder aufzunehmen, haben diese drei einfach mit nach Hause genommen. Für die Kinder war das in dieser Situation das Beste. Bei allen anderen jonglieren wir das hin und her. Wir sind sehr dankbar, dass wir mit Mutpol so einen verlässlichen Partner an der Seite haben und unsere Bereitschaftspflegefamilien trotz des Infektionsrisikos grundsätzlich aufnahmebereit waren.

Wie war die Situation in der Familie mit den drei kleinen Kindern?

Ein Notfall, weil die Mutter ins Klinikum musste und kein familiäres Umfeld hat, das sie mit den Kindern unterstützen konnte. Diese Fälle haben wir auch oft. Die Mutter ist inzwischen wieder entlassen, die Kleinen sind wieder daheim.

Gibt es auch Familien, die sich von sich aus an das Jugendamt wenden, weil sie feststellen, jetzt geht es nicht mehr?

Leider ist die Regel immer noch die, dass wir erst durch Dritte aufmerksam werden. Doch tendenziell haben sich seit Beginn der Corona-Pandemie auch mehr Familien an uns gewandt als sonst. Aber der Anteil ist mit rund zehn Prozent immer noch sehr gering. Ich würde mir wünschen, dass es mehr ist.

Und was sagen die dann?

Häufig hören wir „Bitte holen Sie unser Kind ab, es geht nicht mehr“. Sie machen klar, dass sie nicht mehr mit ihm zurechtkommen. Diese Meldungen gehen auf jeden Fall schleichend nach oben. Viele unserer Neufälle sind Problemlagen, die möglicherweise ohne Corona nicht auf unserem Tisch gelandet wären. Das Konfliktpotenzial ist dabei relativ hoch, das heißt, mit unterstützenden Hilfen, wie vor Corona, kommen wir da oft erst einmal nicht weiter. Da sind stationäre Aufenthalte gefragt. Sogenannte Normalfälle, bei denen man in Ruhe überlegen kann, was man gemeinsam tun kann, gibt es bei uns momentan sehr wenig.

Macht Ihnen das Angst?

Also grundsätzlich haben wir seit Beginn der Pandemie die große Sorge, etwas zu übersehen und damit vielleicht falsch zu beurteilen. Für die Zukunft stellt sich mir die bange Frage, wie wir all den Problemlagen gerecht werden können und ob es nicht eine neue Infrastruktur geben muss, wie bei Heimplätzen. Die Zahlen steigen, gleichzeitig kommen wir aus unseren Altfällen nicht raus, weil die weiterhin Hilfe brauchen. Zeitgleich schlagen aber die neuen Fälle bei uns auf. Die spannende Frage ist, wo entwickelt sich das hin? Die Herausforderung wird sein, das mit unseren Partnern, wie Mutpol, zu klären.


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