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Jung, allein – und nun auf eigenen Beinen

230 Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Eltern geflüchtet sind, kamen seit 2015 in den Kreis Tuttlingen


Blick in die UMA-Wohngruppe im Bahnhof: Im Dezember 2015 fand der Unterricht nahe des Wohnbereichs statt.
Mittlerweile besuchen alle UMA öffentliche Schulen oder machen eine Ausbildung. (Archiv-Foto: Ingeborg Wagner)


Von Ingeborg Wagner

TUTTLINGEN – Viele sind mit dem großen Flüchtlingszuzug der Jahre 2015 und 2016 nach Deutschland gekommen: Unbegleitete, minderjährige Ausländer, kurz UMA genannt, die ohne ihre Eltern aus den Heimatländern geflohen waren. Mehr als 200 junge Menschen wurden in der Jugendhilfeeinrichtung Mutpol betreut, in enger Zusammenarbeit mit dem Jugendamt. Die meisten sind mittlerweile über 21 Jahre alt, der größte Teil ist in Ausbildung oder einer Beschäftigung, erzählt Petra Bäßler, Bereichsleiterin Hilfen für Flüchtlinge bei Mutpol.

Derzeit werden im Landkreis Tuttlingen noch 14 UMA vom Jugendamt betreut. Mindestens zehn davon erreichen in diesem Jahr die Altersgrenze von 21 Jahren und müssen daher aus dem System der Jugendhilfe ausscheiden. „Ganz niederschwellig“ seien die Hilfestellungen für diese jungen Menschen. „Sie gehen in die absolute Selbstständigkeit“, berichtet Bäßler.

Rückblickend findet sie, dass die Strategie, die UMA relativ schnell auf eigene Beine zu stellen und mit den Gegebenheiten zu konfrontieren, genau die richtige gewesen sei. Sie zählt die wichtigsten Eckpunkte auf: Deutsch lernen, Ausbildung oder Arbeit suchen, Wohnraum finden, mit Geld umgehen. Bäßler: „Die Wünsche und Vorstellungen waren vielfach übersteigert und durch Euphorie überlagert. Unsere Aufgabe war es, sie an Realitäten heranzuführen.“ Wichtigster Punkt dabei: die deutsche Sprache so anwenden zu können, damit man auch eine Ausbildungsstelle oder eine Arbeit antreten konnte. „Da haben viele bemerkt, dass sie nicht nur mehr, sondern richtig viel lernen müssen“, sagt die Sozialpädagogin.

Mittlerweile, so schätzt Petra Bäßler, seien rund 80 Prozent in einer Ausbildung oder in einem Beschäftigungsverhältnis. Nein, nicht als Fußballprofis, wie der Traum vieler junger Männer gewesen sei, sondern ganz solide: Altenpflege, Handwerk, Metallberufe – „da können sie Fuß fassen“.

Kreisjugendamtsleiterin Christina Martin sieht das ähnlich: „Insgesamt gelang es uns rückblickend im Landkreis Tuttlingen gut, einen Großteil der betreuten UMA in Schule oder Beschäftigung zu vermitteln.“ Natürlich gebe es auch junge Geflüchtete, die infolge ihrer persönlichen Situation und Einschränkungen, wie starke Traumatisierung oder sonstige fluchtbedingte Einschränkungen, Erkrankungen oder Behinderungen, nicht gut oder nur sehr mühsam integrierbar waren. Martin: „Dies war jedoch ein geringer Anteil, der sich statistisch etwa in dem Rahmen bewegt, wie er sich bei unseren Kindern und Jugendlichen auch darstellt.“

Syrien, Afghanistan, Somalia und Gambia sind nur einige der Länder, aus denen die jungen Geflüchteten – vorwiegend Männer, aber auch einige Frauen – stammen. Die meisten haben sich für ihr Asylverfahren und die Aufenthaltsgenehmigung einen Anwalt genommen, den sie aus eigener Tasche bezahlen mussten. Bäßler: „Das war aus meiner Sicht ein wichtiger Schritt: Zu spüren, ich komme da nicht weiter und brauche Unterstützung. Und dafür muss ich was beisteuern.“ Beisteuern mussten sie für die Verfahren auch Originalpapiere, die viele nicht hatten. Da konsequent dranzubleiben sei ein hoher, aber wichtiger Aufwand gewesen. Abschiebungen habe es keine gegeben, teilt Christina Martin vom Jugendamt mit.

Als herausragend bezeichnet Bäßler die Bereitschaft Tuttlinger Unternehmen – die großen Firmen ebenso wie mittlere und kleine Handwerksbetriebe – den jungen Menschen Möglichkeiten zu bieten für Praktika, Probearbeit, Ausbildung und zum Schnuppern. „Das war wirklich toll.“ Manche Betriebe hätten dabei auch schlechte Erfahrungen gemacht, es habe Rückschläge gegeben. Die Aufgabe, den jungen Menschen aus fremden Ländern das Gefüge der Arbeitswelt in Deutschland zu vermitteln und auch die Tatsache, warum der Chef sauer ist, wenn man nicht jeden Tag pünktlich zur Arbeit komme – das hat sie bei den Betreuern von Mutpol ebenso wie bei den Mitarbeitern des Jugendamts gesehen. „Wir haben den Jugendlichen wenig Schlupflöcher gelassen.“ Wenn der Chef angerufen und sich beschwert hat, wurde nachgehakt und mit den Betroffenen gesprochen.

Dass es nicht nur Erfolgsgeschichten gab, ist selbsterklärend. Einige der jungen Menschen sind mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Bei Auseinandersetzungen mit anderen, bei denen es meist um Stolz und Ehre gegangen sei. „Prozentual umgerechnet waren das nicht viele, aber bei denen, die aufgefallen sind, waren auch extremere Geschichten dabei“, erläutert Bäßler. Vorfälle, bei denen auch Messer im Spiel gewesen seien. Das wurde mit Jugendstrafen, Geldbußen und teilweise mit Haft, geahndet. Wichtig ist der Sozialpädagogin, zu betonen, dass die Taten auf allergrößtes Unverständnis ihrer Kollegen gefallen sei. „Auch ich verurteile das aufs Schärfste“, sagt sie.

Christina Martin geht auf diese polizeilichen Vorkommnisse und Regelübertritte ein – und auf die Tatsache, dass viele der jungen Menschen „diese unvorstellbar zu bewältigende Anpassungsleistung aus unserer Wahrnehmung erstaunlich gut bewältigt haben“. Sie betont, dass sich die Kinder und Jugendlichen auf der Flucht ohne Eltern bis nach Deutschland durchgeschlagen haben, um sich dort binnen kürzester Zeit in ein für sie völlig fremdes Werte- und Regelsystem zu integrieren. Mit der Aufforderung, bis zu ihrem 21. Lebensjahr in der Lage zu sein, selbstständig zu leben und zurechtzukommen. Martin: „Das fällt offen gestanden ja teilweise schon Kindern und Jugendlichen schwer, die bei uns und mit Eltern aufgewachsen sind.“

Sie und ihre Kollegen hätten daher enormen Respekt vor der Leistung dieser jungen Menschen. Und die der Betreuer. Diese hätten Außerordentliches geleistet. Martin: „Dies war für alle Beteiligten ein immenser Kraftakt.“ Eine turbulente Zeit, die allen Beteiligten in bleibender Erinnerung behalten werden, sagt sie.

In zwei Fällen kam der Familiennachzug

sz – Im Landkreis Tuttlingen wurden im Zeitraum 2015/2016 bis heute rund 230 UMA betreut und begleitet. Neben der jugendhilferechtlichen Unterbringung, zum Beispiel bei Mutpol, sowie der damit verbundenen Hilfeplanung war für alle UMA aufgrund der Abwesenheit eines gesetzlichen Vertreters eine Vormundschaft beim Landkreis eingerichtet.

In zwei Fällen wurde eine Familienzusammenführung umgesetzt.

Derzeit werden noch 14 unbegleitete Geflüchtete im Landkreis betreut. Vier von ihnen besuchen eine Schule, drei sind in Ausbildung, zwei in Arbeit, teilt Nadja Seibert, Sprecherin des Landratsamts, mit. Drei sind arbeitslos, und zwei UMA seien relativ neu aufgenommen worden und hätten daher weder Schule noch Beschäftigung aufnehmen können. „Das soll nach dem Ende der derzeitige Corona-Beschränkungen geschehen“, so das Landratsamt.

(sz)


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