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Benni (gespielt von Helena Zengel) ist ein „Systemsprenger“. Der gleichnamige Film erzählt ihre Geschichte. (Foto: Yunus Roy Imer)


TUTTLINGEN – Die neunjährige Benni wird von Pflegefamilie zu Pflegefamilie gereicht. Ihre Mutter hat Angst vor der Tochter. Nirgendwo kommt die wirklich an. Benni ist aggressiv und kann nur schwer Beziehungen zu ihren Mitmenschen aufbauen. Ihre Geschichte erzählt die Regisseurin Nora Fingscheidt im Film „Systemsprenger“. Am Montag zeigt ihn das Scala um 19 Uhr in Tuttlingen. Einmalig. Dieter Meyer, Leiter der Diakonischen Jugendhilfe Mutpol, hat die Veranstaltung zusammen mit dem Landratsamt organisiert. Sein Verein betreut Kinder wie Benni. Im Interview mit Volontärin Birga Woytowicz schildert er, warum er nicht gerne von Systemsprengern spricht und erst recht nicht über Schuld.
 

Dieter Meyer (Foto: b. Woytowicz)



Herr Meyer, wie oft haben Sie es im Alltag mit Systemsprengern zu tun?

Wir betreuen 700 bis 800 Jugendliche. Ein gewisser Prozentsatz davon bringt uns schon manchmal an unsere Grenzen. So sehr, dass wir nicht mehr weiter wissen. Aber ich tue mich schwer, Kinder als so schwierig zu bezeichnen. Das finde ich den Kindern und auch meinen Mitarbeitern gegenüber unfair. Sie geben ihr Bestes. Und ich bin überzeugt: Das Verhalten der Kinder ergibt Sinn, würde man es verstehen. Mich stört auch der Begriff Systemsprenger.

Was schlagen Sie stattdessen vor?

Systemsprenger beschreibt ja eigentlich, dass etwas mit brachialer Gewalt oder Dynamit zerstört wird. Das macht das Kind nicht, es bleibt ja im gesellschaftlichen System. Ich spreche lieber von Systemherausforderern. Wir haben es mit Kindern zu tun, die uns öfters ratlos zurücklassen. Sie sind psychisch auffällig, treten schwer in Beziehungen und können sich nicht in andere hineinversetzen. Ihnen fehlt manchmal Empathie. Aber das Kind ist nicht das Problem.



Worin liegt denn das Problem?

Oft geht es um fehlende Kommunikation und nicht gelingendes Bindungsverhalten. Manche Eltern sind schon überfordert mit ihrem eigenen Leben. Wenn dann noch finanzielle Schwierigkeiten hinzukommen oder ein Elternteil das Kind alleine oder in einer Patchwork-Familie erzieht, erschwert es die Situation. Aber auch bei Paaren, die zusammenbleiben, kann das Kind nebenher laufen. Wenn mit Eltern geredet wird, sollte Schuld aber nie ein Thema sein. Das hilft überhaupt nicht weiter. Wichtig ist, zu verstehen, warum das Kind ist, wie es ist und was es braucht. Dabei muss das Scheitern immer mit einkalkuliert werden. Es braucht zum richtigen Zeitpunkt die richtige Idee von dem richtigen Mitarbeiter. Das ist aber der Idealzustand.

Wie versuchen Sie sich bei Mutpol dem anzunähern?

Von der offenen Jugendarbeit bis hin zur Wohngruppe bieten wir eigentlich alles an Betreuungsformen. Aber für Systemherausforderer gibt es keine Schubladen mit festen Konzepten. Die müssen wir eigentlich immer wieder individuell entwickeln. So weit, dass es uns in jedem Einzelfall gelingt, sind wir leider noch nicht, muss ich selbstkritisch sagen. Wenn jetzt zum Beispiel sechs Kinder zusammen betreut werden, einer aber immer austickt, müssen wir dem Jugendamt sagen: Es geht nicht mehr; wir müssen ein anderes Setting konstruieren, so geht es nicht weiter. Ich trage auch noch Verantwortung gegenüber den anderen Kindern und meinen Mitarbeitern.

In Jugendämtern ist immer wieder Personalmangel Thema. Ihr Ansatz, jeden Fall individuell zu betrachten, ruft nach Personal. Erschweren begrenzte Kapazitäten die Betreuung?

Im Tuttlinger Jugendamt ist das Team aktuell zum Glück wieder komplett. Da funktioniert die Kooperation sehr gut. Aber klar, ich würde mir auch mehr Personal für solche Fälle wünschen. Am liebsten Honorarkräfte, die abrufbar sind. Es kann nicht die eine Person geben, die ein Kind rettet. Es muss immer ein Zusammenspiel sein von Kindergarten, Schulen, Behörden und Jugendhilfe.

Bedeutet das auch, dass ein Kind dann sein Leben lang auf Hilfe angewiesen ist?

Nein, das würde ich nicht so sagen. Viele Kinder können wir von der stationären Hilfe in ihre Herkunftsfamilie zurück vermitteln. Viele finden eine Ausbildung, gehen arbeiten und sind selbstständig. Klar, nicht alle, aber viele finden ihren Weg.
 

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