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Pflegeeltern für Kinder aus Problemfamilien sind mehr und mehr Mangelware.
Das Problem betrifft nicht nur den Landkreis Tuttlingen. (Foto: Marc Tirl)


TUTTLINGEN (iw) – 79 Kinder im Kreis Tuttlingen leben derzeit in Vollzeitpflege, weil sie in der eigenen Familie nicht aufwachsen können. Die leiblichen Eltern konsumieren Drogen oder Alkohol, leben in unhaltbaren hygienischen Zuständen, es gibt Misshandlung und Missbrauch. „Momentan ist es schwierig, kurzfristig ganz kleine Kinder unterzubringen“, sagt Reinhard Günther, stellvertretender Leiter des Kreisjugendamts. Denn es fehlen Pflegeeltern.

Nicht nur die Zahl der Pflegefamilien – es gibt 41 im Kreis, wovon 40 momentan belegt sind – ist in den vergangenen Jahren gesunken. Auch die Bereitschaft, Kinder unter drei Jahren aufzunehmen. Günther hat eine Erklärung dafür: der gesellschaftliche Wandel. „Die Familien, in denen die Frauen zu Hause bleiben, gehen zurück.“ In der Regel seien heute beide Elternteile berufstätig. Die Betreuung wird einfacher und verlässlicher, wenn das Kind bereits eine Schule besucht und damit in der Regel mindestens fünf Stunden außer Haus untergebracht ist.

Deshalb denkt das Kreisjugendamt über Alternativen zu Pflegeeltern als dauerhafte Unterbringung für Kinder bis zu drei Jahren nach. Günther: „Bis jetzt sind wir zurechtgekommen, aber jetzt muss etwas passieren.“ Ein mögliches Konzept wäre zum Beispiel 24-Stunden-Notfallkrippen mit der Überlegung, sich einen professionellen Träger mit ins Boot zu holen. „Die Klärungsprozesse laufen“, verweist der stellvertretende Amtsleiter auf den Stand der Dinge. Keine Alternative sind aus seiner Sicht Säuglingsheime, die es vor Jahrzehnten noch gab. Günther: „Die Kinder brauchen nicht nur Versorgung, sondern auch Förderung. Das ist die Herausforderung, die sich stellt.“

Neben der Vollzeitpflege gibt es für Notsituationen, in denen Kinder kurzfristig aus ihren Familien genommen werden müssen, die sogenannte Bereitschaftspflege. Diese geht maximal drei Monate, dann müssen Perspektiven gefunden werden. Zehn Kinder sind momentan untergebracht, „größtenteils junge und ganz junge Kinder“, sagt Günther. Denn die älteren haben die Möglichkeit, in Wohngruppen des Jugendhilfeträgers Mutpol unterzukommen.

Mutpol-Leiter Dieter Meyer hat festgestellt, dass die Kinder, die in Heimsettings kommen, immer jünger werden. „Wir denken mittlerweile über Betreuungsformen für unter Sechsjährige nach und sind in Gesprächen mit den Kindergärten“, sagt er auf Nachfrage der Schwäbischen Zeitung. Eine dauerhafte Tag-und-Nacht-Betreuung für unter Dreijährige sei aber nochmal etwas anderes. Das Kreisjugendamt sei mit diesem Thema nicht auf Mutpol zugekommen, sagt Meyer. Kategorisch ausschließen will er ein Engagement von Mutpol in diesem Bereich nicht. Am Anfang müssten allerdings Gespräche mit allen Beteiligten stehen.

Neuer Kurs startet

Im Herbst startet das Kreisjugendamt einen weiteren Qualifizierungskurs für mögliche Pflegeeltern. Lara Hamann vom Pflegekinderdienst im Landratsamt hat bislang fünf Bewerber vorliegen. Neben den sechs Kursabenden gibt es intensive Gespräche mit Vertretern des Jugendamtes, in denen es um Rechte und Pflichten von Pflegeeltern sowie speziellere Fragen geht. Dabei werden mögliche Probleme nicht verschwiegen. „Es gibt Gründe, warum Kinder nicht mehr in den eigenen Familien leben können“, betont er. Jedes Pflegekind bringe daher seine eigene Geschichte sowie eigene Verletzungen und Schädigungen mit sich. Er zitiert aber auch langjährige Pflegeeltern, die im Rückblick sagen: „Es war eine tolle Zeit.“

Seine Kollegin Lara Hamann wünscht sich, dass sich noch mehr Paare oder Alleinerziehende dafür entscheiden, ein Kind bei sich aufzunehmen. „Dann sind wir umso flexibler, um für jedes Kind ein passendes Umfeld zu finden.“ Im Durchschnitt betrage der Aufenthalt in einer Pflegefamilie fünf Jahre. Gerade eben hat sich bei einem siebenjährigen Mädchen die Pflege- in eine Adoptionsfamilie verwandelt. „Das ist aber die Ausnahme“, betont sie. Denn die leiblichen Eltern müssen einverstanden sein.

Alltag von Pflegefamilien

Wie lebt es sich als Familie auf Zeit? Welche Entschädigung bekommen Pflegeeltern für ihre Tätigkeit?
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79 Kinder sind in Vollzeitpflege (iw)

79 Kinder, davon fünf mit einer Behinderung, sind momentan im Kreis Tuttlingen in Vollzeitpflege. Davon sind 46 Prozent im Alter zwischen sechs und 14 Jahren.

Dazu kommen zehn Kinder in Bereitschaftspflege: Diese greift in Notsituationen und ist für maximal drei Monate gedacht, „dann müssen wir andere Perspektiven haben“, erklärt Günther. Zehn Familien sind zur Bereitschaftspflege bereit, sie betreuen derzeit größtenteils junge bis ganz junge Kinder.

Zusätzlich gibt es die sogenannte Kurzzeitpflege bei Krankheiten von Elternteilen für vier bis sechs Wochen. Günther: „Da greifen wir auf den gleichen Pool wie bei der Bereitschaftspflege zurück.“ (iw)


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