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Um "nur eine Chance" bettelte der verurteilte 20-Jährige in seinen Schlussworten vor dem Landgericht Rottweil.
Dreieinhalb Jahre Haft im Jugendgefängnis Adelsheim liegen nun vor ihm.

ROTTWEIL / TUTTLINGEN – "Wir mussten ein Zeichen setzen." Das sagte Karlheinz Münzer, der Vorsitzende Richter, zur Messerstecherei im vergangenen Dezember am Tuttlinger Busbahnhof. Die Große Jugendkammer des Landgerichts Rottweil verurteilte den Haupttäter, einen knapp 20-jährigen Flüchtling aus Pakistan, am Freitagnachmittag wegen versuchten Totschlags zu einer dreieinhalbjährigen Haftstrafe.

Aus U-Haft wieder frei

Seine beiden Mittäter, ebenfalls pakistanische Asylbewerber, kamen mit 100 Arbeitsstunden davon. Außerdem müssen sie sich eineinhalb Jahre bewähren, sonst drohen ihnen weitere Strafen. Die beiden, 18 und 20 Jahre alt, erklärten noch an Ort und Stelle in Absprache mit ihren Verteidigern, auf eine Revision zu verzichten. Sie hatten mit einem Gürtel beziehungsweise mit einem Schuh auf ihre Kontrahenten eingeschlagen.

Der 20-Jährige, der während des Prozesses wegen Beeinflussung von Zeugen in U-Haft gekommen war, kam gestern wieder auf freien Fuß. Allerdings droht ihm wegen seines Verhaltens ein weiteres Verfahren.

"Sich am hellen Nachmittag mitten in der Stadt auf einem belebten Platz, wo viele Schüler auf den Bus warten, zu einer Schlägerei zu verabreden - das zeugt von einer gehörigen kriminellen Energie", betonte Richter Münzer. Letztlich habe der Hauptangeklagte noch Glück gehabt. Einerseits, weil sein Messer nach dem zweiten Stich abgebrochen sei, während er bereits zum dritten Mal ausgeholt habe. Und wenn, andererseits, einer seiner beiden Stiche in den Rücken nur eineinhalb Zentimeter weiter seitlich eingedrungen wäre, hätte das den Tod für den 18-jährigen Syrer bedeuten können.

Haupttäter geschockt

Staatsanwalt Markus Wagner hatte sogar fünfeinhalb Jahre Haft für den Hauptangeklagten gefordert. Als der das hörte, fiel er in sich zusammen, legte seinen Kopf minutenlang auf den Tisch. Zwar sei der Pakistani zunächst von seinem 14-jährigen syrischen Nebenbuhler mit dem Tod bedroht worden. Dann aber habe er auf gleiche Weise reagiert und sowohl vor als auch nach der Tat erklärt: "Ist mir doch scheißegal, wenn er stirbt." Entsprechend habe er "massive Gewalt aus nichtigem Anlass ausgeübt", so Wagner.

Der junge Mann zeigte Wirkung. Als ihm Richter Münzer die Gelegenheit zum letzten Wort gab, wurde es für eine lange Minute still im Saal. Er brauchte Zeit, um sich zu fassen, flehte und bettelte dann geradezu, wiederholte mehrfach den gleichen Satz: "Ich will nur eine Chance." Noch nie sei er straffällig geworden, und er werde es auch nie wieder werden. "Knast" sei sehr hart für ihn, zumal er keinerlei Besuch erwarten könne. Er würde im Falle eines Rückfalls freiwillig 20 Jahre ins Gefängnis gehen und das sofort unterschrieben, wenn er nur eine Chance bekomme.

Richter Münzer machte ihm bei der Urteilsbegründung deutlich, dass schon die Verurteilung nach Jugendrecht – trotz seines Alters – eine Chance bedeute. Bei Anwendung des Erwachsenen-Strafrechts wäre die Strafe deutlich höher ausgefallen. Im Jugendgefängnis Adelsheim bestehe die Chance auf eine Ausbildung, die er auf Grund seines "Potentials" nutzen könne.

Staatsanwalt Wagner kritisierte die Aussagen von Angeklagten und Zeugen als "ein Festival von Lügen, Halbwahrheiten und Erinnerungslücken". Er hat deswegen mehrere Verfahren wegen Falschaussage eingeleitet, wie er auf Anfrage erklärte.

Zeugin spurlos verschwunden

Auf eine der wichtigsten Zeuginnen musste das Gericht verzichten: Das 14-jährige Mädchen ist spurlos verschwunden, wie polizeiliche Nachermittlungen ergaben. Sie halte sich entweder in Rumänien oder Spanien auf, berichtete ein Kripobeamter.

Ansichtssache: Ein explosives Ge­misch

Wer diesen Prozess als unvoreingenommener Beobachter verfolgt hat, der braucht schon sehr viel Gottvertrauen, um nicht vom Glauben abzufallen – vom Glauben an den Satz: Wir schaffen das!

Da sitzen drei adrette und auch nette junge Flüchtlinge aus Pakistan auf der Anklagebank, die erstaunlich gut deutsch sprechen und auch gut integriert zu sein scheinen, so jedenfalls der erste Eindruck. Sie haben bei Mutpol in Tuttlingen eine liebevolle Betreuung erfahren. Alle bescheinigen ihnen gute Umgangsformen mit Höflichkeit und Respekt. Es fallen Worte wie ehrlich, gewissenhaft und verantwortungsbewusst. Und dann erfährt man, dass ein Streit um ein 14 Jahre altes Mädchen sowie ein paar Worte, in den es um Ehre, verletzten Stolz und Beleidigung von Müttern geht, genügen, dass sie völlig ausrasten. Da stehen selbst die so motivierten Betreuerinnen vor einem Rätsel.

Das ist es nicht allein. Die Grenze zwischen Tätern und Opfern verschwimmen in diesem Prozess. Die Gegner der Pakistani waren Araber, in der Mehrheit Syrer. Auch sie sprechen gut deutsch, sind zum Teil zwar – im Gegensatz zu den Pakistani – vorbestraft, wirken ebenfalls einigermaßen integriert. Dann aber stellt sich heraus, dass auch sie allzeit gewaltbereit sind und bei geringsten Angriffen auf Ehre oder Stolz zu fast allem bereit sind. Nicht zuletzt: Es treten Zeugen aus beiden Lagern auf, die glauben, deutsche Gerichte belügen und täuschen zu können. Das alles ist eine hoch explosive Mischung.

Wer's erlebt hat, der kommt nicht um eine Erkenntnis herum, auch wenn sich beim Flehen der Angeklagten um "eine zweite Chance" fast schon wieder Mitleid einstellte: Da hilft nur die volle Härte des Gesetzes, auch als Signal nach außen. Und noch etwas: Solange diese Flüchtlinge in ihren Nationalitäten unter sich bleiben, wird es nichts mit der Integration. Und solange die Politik realitätsfremde Vorschriften – wie zum Beispiel Arbeitsverbote für Flüchtlinge – nicht ändert, erst recht nicht.


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